Interview mit Shaolin-Meister Shi Heng Yi im Shaolin Temple Europe

Otterberg. Bin ich vollkommen, so wie ich geboren wurde? Warum glauben wir eigentlich
ständig uns fehlt etwas? Und auch die Kernfrage: „Wer bin ich eigentlich?“ sind
sinnstiftende Fragen, auf die wir eine Antwort erhalten im Gespräch mit Shaolin-Meister
Shi Heng Yi. Es sollte um sein Buch Shaolin-Spirit gehen, doch schnell wird klar, es geht um
so viel mehr. Das Buch ist eine Art, das tiefe Wissen der Shaolin-Tradition zu vermitteln.
Aber der Weg zu uns selbst ist geprägt von Einfachheit, Tiefe und viel Übung, es geht um
das Erfahren, im Flow sein, nicht um das Denken, das wird schnell klar, und schlussendlich
ums loslassen.

Sabine Schüller: Was ist an der Sichtweise von Shaolin-Spirit auf das Leben so anders?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Eine Art dieses Leben zu verbringen ist, ständig etwas
nachzurennen, von dem wir denken, wenn ich es bekomme ist ein Teil meines Mangeldenkens
wieder gefüllt. Es ist dieser Weg des Anhäufens. Betrachte ich mir das aber ganz nüchtern,
Warum machen wir das? Warum will ich immer etwas zusätzlich haben? Weil ich mit dem was
gerade aktuell vorhanden ist, nicht zufrieden bin. Eventuell ist bereits jetzt aktuell ein Mangel
vorhanden. Und da denke ich mir, ich kann mir nicht vorstellen, unabhängig davon, wie wir auf die
Erde gekommen sind, wer uns auf die Erde gebracht hat, ich kann es mir nicht vorstellen,
zumindest in meiner Welt, das uns Jemand auf diese Erde schickt, unvollkommen!“

Sabine Schüller: Wie komme ich meinem eigentlichen Kern, wer ich wirklich bin auf die Spur?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Es gibt einen Kern, der bedeckt ist mit, was lehren unsere Eltern
uns, was wird in der Schule an uns weitergegeben, unbewusst – die Werbung, das Fernsehen, das
Internet. D.h. sehr vieles fängt an wenn wir durch das Leben laufen, uns zu bedecken. Und das
macht es aus der Perspektive beispielsweise des Buddhismus, eben sehr schwierig irgendwann,
diese Frage zu beantworten,wer bin ich.

Sabine Schüller: Woran liegt das?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Weil wir mit zuvielen Dingen, zu vielen Schleiern bedeckt sind, das
wenn wir auf uns schauen, dann würden wir sagen, ja ich bin der Shaolin-Meister Shi Heng Yi,
oder egal was. Aber das ist nur eine Art und Weise, wie ich mich in diesem Leben entwickeln
habe.

Sabine Schüller: Und wie gelangt man zu dem Kern?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Indem man Schritt für Schritt nicht anhäuft, sondern jetzt ist es
eben genau die andere Richtung, indem wir aufdecken!

Sabine Schüller: Was macht uns als Mensch aus? Wie komme ich dem Phänomen der Seele,
des Geistes auf die Spur?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Wo finde ich die Seele? Wo finde ich den Geist? Wo finde ich den
Spirit? Wie beweise ich das Bewusstsein? Das ist für mich ein Bereich, der einfach formlos ist,
d.h. wir haben eine Welt die formbehaftet ist, und wir haben ein Areal das formenlos ist. Diese
beiden Dinge, besitzt jeder Mensch, die Frage ist nur, ob man sich dessen bewusst ist.

Sabine Schüller: Und wie kommen wir uns selbst näher?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Durch identifizieren ensteht Trennung, durch jedes gesprochene
Wort entsteht Trennung. Mit Worten zu beschreiben, in was wir eingebettet sind, geht nicht. Daher
gibt es verschiedene Traditionen innerhalb des Buddhismus, übrigens auch des Christentums.
Schweigeklöster, ich kenn jetzt nicht die spezifischen Beweggründe, wieso Schweigeklöster, aber
für mich macht das Sinn. Weil sich die Wahrheit, das Leben nicht in Worten ausdrücken kann, das
geht einfach nicht. Eventuell drückt sie sich einfach aus in der Wahrnehmung.

Sabine Schüller: Das üben Sie ja hier jeden Tag?!

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Das ist einer der Gründe, warum es diese Art Organisationen
überhaupt gibt auf der Welt. Es gibt sogenannte Geistliche, sogenannte Spirituelle, die versuchen
dieser Lehre sehr viel Lebenszeit zu investieren, ist da wirklich was dran, wie kann ich das in
Gänze leben.

Sabine Schüller: Haben Sie sich bewusst für diesen Weg entschieden?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi:
Mit jeder Entscheidung, die ich in der Vergangenheit getroffen
habe, hätte sich mein Leben ändern können. Manchmal gibt es kleinere Entscheidungen, mit
geringerer Tragweite, aber es gibt auch Momente mit weitreichenderer Konsequenz. Und immer in
den Momenten, wo ich das Gefühl hatte, ich stehe jetzt genau vor so einer Wegegabelung, hätte
ich vor einigen Jahren noch gesagt, ja das habe ich alles bewusst entschieden. Das war ICH, der
das entschieden hat. Jetzt rückblickend kann ich es nicht leugnen, dass so viele Dinge zum
richtigen Zeitpunkt zusammengekommen sind, das mein bewusstes Entscheiden, eigentlich nur
das Abhaken war. Die Entscheidung war eigentlich schon getroffen, aufgrund der Umstände, wie
die Dinge zusammen gekommen sind.

Sabine Schüller: Im positiven Sinne könnte man sagen, wenn das Leben fließt, fließt man mit
dem Leben?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Das ist ein sehr schöner Ausdruck, damit kann ich sehr viel
anfangen.

Sabine Schüller: Was bedeutet es im FLOW zu sein?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Es gibt ja heutzutage insbesondere für die jüngere Generation,
diese bisschen modernere Lehren wie im Flow sein. Aber es ist ja kein Problem. Stellen wir es
uns einfach so vor, da fließt etwas, egal was es ist, irgendwas ist da am Fließen. Die erste Frage
wäre: Was ist der Grund, warum ich nicht mitfließe? Das liegt einfach daran,weil ich verhärtet bin.
Weil ich räumlich, zeitlich verhärtet bin. Das ich dort, wo ich mich aktuell gerade befinde, mich
nicht großartig weiterbewegen will. Das ist wie innerhalb eines Flussbettes, der Fluss, der fließt. Ja
aber der Stein, der steht da verhärtet. Egal, der Fluss, der fließt die ganze Zeit, aber der Stein, der
bleibt dort liegen. Will ich aber jetzt in Fluss kommen ist erstens überhaupt die Realisation wichtig,
ich bin der Stein, ich bin verhärtet. Welche Möglichkeiten gibt es für mich, das ich diese
verfestigte Form, anfange aufzulösen? Die Antwort ist, loslassen!

Sabine Schüller: Ganz schön schwer?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Ganz schön schwer, und deswegen die Lösung mit dem höchsten
Transformationspotenzial!

Sabine Schüller: Zum Abschluss, was fällt Ihnen am Leichtesten?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Am Einfachsten fällt mir über die Dinge zu sprechen, bei denen ich
selbst Erfahrung gesammelt habe.

Sabine Schüller: Sind Sie in den Bereichen auch am nächsten an ihrem Wesenskern?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Das Leben ist innerlich für mich einfacher geworden.
Insbesondere weil dieser sehr, sehr wichtige Bestandteil des Loslassens immer unumgänglicher
wird, und bedeutet, mehr und mehr komme ich in diese Wahrnehmungswelt, das tatsächlich
Dinge kommen und Dinge gehen, und die Anhaftung ist dann nicht mehr vorhanden.

Sabine Schüller: Und was fällt Ihnen am Schwersten?

Shaolin-Meister Shi Heng Yi: Ja gut, tatsächlich in verschiedenen Bereichen des Lebens das
Loslassen. Ich denke das ist die schwierigste Praxis, die uns in diesem Leben auferlegt worden
ist. Weil dieses Loslassen auf verschiedenen Ebenen stattfinden kann. Fängt an mit dem
Loslassen von Ideen, dem Loslassen von materiellen Gütern, was man aufgebaut hat, guten
Freunden, Menschen oder Tieren, die man geliebt hat, und eines Tages das Loslassen vom dem
größten aller Projekte, was man geschaffen hat, nämlich sich selbst.

Info-Box:
Shaolin Templel Europe in Otterberg: https://www.shaolintemple.eu/
Buch: Shi Heng Yi: Shaolin Spirit. Meistere dein Leben, O. W. Barth Verlag, Verlagsgruppe
Droemer Knaur, 2023.